In schwierigen Zeiten kann es helfen, sich auf das Einfache zu besinnen. Die Einfachheit kann sich dabei zwar als trügerisch erweisen, dennoch kann sie als Ausgangspunkt zu einer strukturierten Entwicklung helfen.
So schrieb ich in dem Beitrag zum Punkt. Seither sind die Zeiten düsterer und schwieriger geworden. Und ich wundere mich über die Sinnerweiterung, die gerade dadurch dieser Einleitung zugewachsen ist. Auch Kandinsky selbst sieht in seinen Überlegungen Ansätze zur Völkerverständigung auf dem Weg über internationale Kunstinstitute (siehe Pos.763).
Wie wird aus dem Punkt eine Linie?
Ist der Punkt geometrisch ein Ding ohne Ausdehnung und Begrenzung, so kann aus ihm auch nur etwas ohne Ausdehnung entstehen, also etwas rein Gedankliches. So denken wir uns also
- entweder die Reihung vieler Punkte, die eine Linie ergeben (hier Koriandersamen aus dem Garten oder kurvige Salzkrümel):


- oder die Spur eines sich bewegenden Punktes – so sieht es Kandinsky:
… Kraft stürzt sich auf den sich in die Fläche hineinkrallenden Punkt, reißt ihn heraus und schiebt ihn auf der Fläche nach irgendeiner Richtung. Dadurch wird die konzentrische Spannung des Punktes sofort vernichtet, wobei er selbst um sein Leben kommt und womit aus ihm ein neues Wesen entsteht, das ein neues, selbständiges Leben führt und also eigenen Gesetzen unterliegt. Dies ist die Linie.
Kandinsky, Wassily. Punkt und Linie zu Fläche: Analyse der malerischen Elemente (German Edition) . e-artnow. Kindle-Version. Pos 472

Die Linie ist also kein autonomes Element, sondern abgeleitet.
Kandinsky schreibt der Linie eine Spannung zu (entspricht der Bewegung) und eine Richtung. Die grundlegenden Linienrichtungen (senkrecht,waagerecht und diagonal) setzt er in Beziehung zu Farben, denen er ebenfalls Spannungsrichtungen zuordnet, so dass sich folgende Eigenschaften bilden:
- Der Horizontalen kommt kalte Flachheit zu, in der sie der ‚Farbe‘ Schwarz entspricht. Hierher ordnet Kandinsky auch die ‚kalte Lyrik‘ zu
- Entgegengesetzt ist somit die warme Höhe der Vertikalen mit der Entsprechung zu Weiß und zur heißen Dramatik.
- Die Diagonalen (und alle weiteren Schrägen) bilden nicht etwa nur Grau als Mischung aus beiden, sondern werden von Kandinsky den Farben Blau und Gelb zugeordnet.
Überschneiden sich mehrere solcher Linien in einem Punkt, zeigt sich ihre Kraft zur Flächenbildung, je dichter sie liegen um so größer und deutlicher entwickelt sich im Zentrum eine Kreisfläche. Dies gilt für die zentralen Linien, die im übrigen fest mit der Fläche verbunden scheinen.

Anders verhält es sich mit den azentralen Linien. Ihnen kommen die Eigenschaften des Vor- und Zurücktretens zu, wie wir es in perspektivisch Darstellungen sehen. Und daher auch nimmt Kandinsky die Farbzuweisung von Blau als Zurückweichendes, Fernes. Entsprechend dazu Gelb als Naheliegendes, Hervorspringendes.
Die azentralen Geraden, besonders wenn sie ohne Kontakt zum Bildrand sind, entfernen sich von der Bildfläche, können sie sogar scheinbar durchstoßen. Somit sind sie extrem unruhig.


Kandinsky will diese grundlegenden Annahmen von 1926 nicht nur zur Basis einer künftig noch zu entwickelnden Kompositionslehre machen, die er in seinen Seminaren im Bauhaus entwickelte und bereits in den Jahren zuvor in seinen Werken (vor allen den ‚Kompositionen‚) demonstrierte. Auch möchte er mit seinen Gedanken zur Diskussion theoretischer Methoden anregen.
Bisher setzte immer nur eine Kraft den ruhenden Punkt in lineare Bewegung. Wenn nun aber zwei Kräfte auf ihn wirken, so ergeben sich zwei Fälle,
- entweder wirken die beiden Kräfte gleichzeitig, die Linie nimmt die Form einer Kurve an, im Extremfall einer geschlossenen Kreislinie wieder die Tendenz zur Flächenbildung,
- oder die Kräfte wirken abwechselnd, die Linie wird zackig. Die entstehenden Winkel weisen voraus auf eine Flächenbildung (die von den Winkelbegrenzungen eingefasst werden).
Die im zweiten Fall entstehenden Winkel nimmt Kandinsky zum Anlass, ihnen je nach Winkelgröße, Länge der begrenzenden Geraden und Ausstrahlung ihrer Öffnung Klänge und Farben zuzuordnen, was ich hier nicht näher ausführen möchte.
Die Gerade und die Gebogene bilden das ursprünglich-gegensätzliche Linienpaar.
Pos.826
Noch ein zusätzlicher Buchtipp zum Schluss: Grafisch unglaublich schön, kunsthistorisch und philosophisch anregend finde ich das Buch von Peter Boerboom und Tim Prötel, Linien überall. Bern 2020, erschienen im Haupt Verlag.
Zur Erholung von so viel Theorie noch ein kleiner Bilderbogen mit Fotos von Linien, Bögen, Punkten und Flächen, der euch hoffentlich ein bisschen vergnügt.












Das ist eine sehr schöne Würdigung der meist übersehenen Nichtigkeiten, die aber auch keinen Zweifel daran lassen, dass letztlich auch das Substanzlose mit Hilfe geliehener Substanz in Erscheinung treten kann.
LikeGefällt 1 Person
Die „geliehene Substanz“ gefällt mir gut, lieber Joachim. Insgesamt sehe ich in deiner Beschreibung auch viel von dem, was du auf deinem eigenen Blog tust: wirkende Kräfte anschaulich machen in Wort und Bild.
Ich wünsche dir einen schönen Sonntag.
LikeLike
Vielleicht hast du mich ja angerempelt.🙃
LikeLike
Die Schwarzweißaufnahmen unten finde ich alle prickelnd. Zum Schluss kriecht ein Mensch..
In Fuerte Jan 2020 hatte ich eine Reihe solcher Aufnahmen gemacht, nicht mit Papier, sondern durch Licheinfall in „sperrige Ensembles“. Alles nicht weiter bearbeitet, muß ich mal sichten.
Das Buch von Peter Boerboom und Tim Prötel, Linien überall. Bern 2020, erschienen im Haupt Verlag, interessiert mich.
Der Künstler Wols war vor etwa 30 Jahren eine Offenbarung für mich.
Es gab nicht viele, die ähnliches bei mir auslösten.
Danke für den sehr gediegenen Beitrag!
LikeGefällt 1 Person
Wols hatte auf mich auch eine tiefe Wirkung. Ich lernte seine Arbeiten zwischen März und Mai 1990 in einer Ausstellung in Düsseldorf (die gleiche wie im Kunsthaus Zürich) kennen. Mir scheint es an der Zeit, mich noch einmal unter neuem Blickwinkel mit ihm zu befassen, danke für den Anstoß 🙂.
LikeGefällt 1 Person
Da hätten wir uns kennenlernen können, in dieser Ausstellung in Düsseldorf war ich auch.
LikeGefällt 1 Person
Ui, das hat mir der Reader bisher vorenthalten! Deshalb erst heute ein Kommentar: Ein bisschen überfordert mich diese Theorie, und nicht alles kann ich nachvollziehen. Aber dass ich darüber ins Nachdenken komme über die Interdependenz von Punkt, Linie und Fläche – das gefällt mir. Und Deine Bilder dazu – ein echter Genuss!
LikeGefällt 1 Person
Kandinskys theoretischen Überlegungen in allen Facetten zu folgen ist mir auch unmöglich. Aber sie helfen beim Denken, wie du beschreibst.
Seinen letzten Schritt zur Fläche werde ich mir und euch vermutlich ersparen.
LikeGefällt 1 Person
Schade … war schon ganz gespannt, wie das weitergeht.
LikeGefällt 1 Person
Lesen werde ich die Abhandlung zuende, aber ich bin nicht sicher, ob ich dann noch wirklich folgen kann.
LikeGefällt 1 Person
I have to admit that I get impatient with pure theory that goes into so much detail, so thank you for the wonderful group of images giving us a break from the discussion.
But I also admit that I find the ideas quite interesting and lively, as in the quote from item 472 where force pounces on the point. And the idea of the curved or jagged lines depending on the timing of the force, one can see the action in one’s mind.
You demonstrate the theory with so many different examples – the photos (I love those), the collages, the cut paper pieces. My favorite is the one in the lower-left corner – wow! Ule went crazy! This is the kind of crazy we need, not the kind that’s going on to the southeast of you.
I also enjoyed the last piece with its biomorphic forms. And let’s not forget the seed & sand photos at the top! Wonderful post! Reading the comments in translation was fun and I agree with most of the points made by Almuth, Petra & Myriade. It’s great that you generated this discussion. Please keep creating and keep your spirits up in these difficult times. I’m thinking of you.
LikeLike
Thank you so much, dear Lynn, for following my crazy scissors and glue.
The last piece is a double page from a sketchbook which I have been ‚working‘ on (‚playing‘ would be more suitable). I’m still recurring to it when an idea appears of something to add or alter, so it is on progress, not finished if ever.
It is not easy keeping one’s spirit up, as you say, when people are dying in a war on your doorstep. Or nuclear plants are bombed, like tonight … I wonder what they think, those Russian militaries. Do they believe they wouldn’t be touched by heavy nuclear radiation 100 km from their boarder?
LikeGefällt 1 Person
Now I see the pages of your sketchbook. It’s good that you’re doing that. I’m just not organized enough. I tell myself that I need more space.
As for the war, there is rotten thinking at the top and perhaps no thinking at all below that. Who pushes the buttons? Who fires the guns? Who follows the orders? It is unreal.
LikeGefällt 1 Person
It is looking highly real to me, unfortunately. Some more days, and there won’t be much more left than heaps of debris of a lively country, just like towns in Syria etc. When will we ever learn?
LikeGefällt 1 Person
Jetzt wo ich noch mal ein wenig zu Kandinskys Vorstellungen lese, frage ich mich, ob er ein Synästhesist war? Auch die Verbindung von Farbe, Form und Musik. Kann natürlich auch unabhängig davon sein. Jedenfalls hat er für mich schon ein paar merkwürdige Vorstellungen, aber das dürfte bei vielen von uns der Fall sein im Umgang mit Farben und Formen.
Dein Buchtip sieht interessant aus! Vielleicht werde ich dem mal nachspüren.
LikeGefällt 1 Person
So selbstverständlich, wie er die Zusammenhänge darstellt, könntest du mit der Synästhesie recht haben, Almuth.
LikeGefällt 1 Person
Sollte dann nicht was darüber bekannt sein? Auf der anderen Seite weiß ich nicht, wann der Begriff aufkam.
LikeGefällt 1 Person
Vielleicht hat man zu seiner Zeit dieses Phänomen der allgemeinen künstlerischen Sensibilität zugerechnet. Aber ich bin gaaanz weit weg davon zu wissen, was in der Literatur über Kandinsky alles veröffentlicht ist.
LikeGefällt 1 Person
Ist auch die Frage, ob man das nachträglich noch so einordnen könnte. Wie auch immer ,es sind interessante Gedanken seinerseits.
LikeGefällt 1 Person
Ein voll interessanter Beitrag, schon weil ich das Buch vor langer Zeit mit großem Respekt gelesen habe und es als letzte oder besser erste Weisheit auslegte. Damals faszinierte und inspirierte mich vor allem seine Verbindung von Malerei und Musik. Jetzt kommt es zu mir eher auch als subjektive Sicht eines großen Meisters. Vor allem die Zuordnung der Farben zur Linie kommen mir so vor wie’s mir auch schon mit den Formen ging. Diese Subjektivität der Farbassoziation habe ich überhaupt schon oft beobachtet, ob nun bei Kunstschaffenden oder beim Betrachter.
Deine Bildergalerie ist ganz wunderbar! Spiel-und Experimentierfreude, Kreativität und Ideen sind ein Genuss !! Danke!
LikeGefällt 1 Person
Dass Kandinsky mit seinen Ideen zur Farbe dich anspricht, überrascht mich nicht, Petra 😉.
Unter anderem erschließen diese theoretischen Überlegungen Kandinskys mir einen neuen, verständigeren Zugang zu seiner Malerei.
Danke sehr für deine wieder einmal sehr zugewandte Resonanz .
LikeGefällt 1 Person
Liebe Ule, ich komme deswegen so spät, weil mein reader dich schon wieder nicht zur Kenntnis gibt ….
Interessant an Kandinskys Theorie finde ich die Komponente der Bewegung im Prozess vom Punkt zur Linie und des Entstehens der Fläche aus der Linie. Diese Überlegung erzeugt in meinem Kopf so ein heiteres Hin- und Her ähnlich wie auf deinen Fotos, die mir übrigens sehr gut gefallen.
Ich finde solche Überlegungen interessant und philosophisch fruchtbar, Sie bleiben bei mir aber im Bereich der Theorie und des Intellekts. Bei meinem eigenen Tun, mag man es nun Kunst nennen oder nicht, kommen sie nicht zur Anwendung. Da geht es mir um andere Dinge.
LikeGefällt 3 Personen
Auch bei mir handelt es sich hier eher um spielerisches, theoretisches Vergnügen, nur am Rande um Praxisrelevanz. Kandinsky ist mir punktuell auch zu weit abgehoben. Aber seine Überlegungen zu den Übergängen Punkt/Linie und Linie/Fläche finde ich überzeugend.
Dass der Reader bei diesem Beitrag spinnt, liegt wahrscheinlich an mir: ich hatte versehentlich ein weiter zurückliegendes Datum zur automatischen Veröffentlichung eingestellt, das ich nachträglich noch geändert habe. Damit ist der Reader leider überfordert.
LikeGefällt 1 Person
Aha, na dann verzeihe ich ihm. Er spinnt ja immer wieder. Kandinsky war bei meiner früheren anthroposophisch bewegten Malmeisterin ungemein beliebt. In allen seinen Aspekten…
LikeGefällt 2 Personen
O ja, da passt er hin 🙃
LikeGefällt 2 Personen
Vielen Dank für diesen überaus interessanten Denkanstoss!
LikeGefällt 1 Person
Gern geschehen! Unendlich ergiebiger ist es natürlich, Kandinsky direkt zu lesen, ich kratze hier nur an der Oberfläche.
LikeLike
Ich muß mich mit Kandinskys Linien noch mal zu einer annehmbareren Uhrzeit auseinandersetzen, aber an deinen Linienspielen habe ich mich sehr erfreut Ule! Die sprühen ja nur so vor Kreativität und Spiellust 🙂 Ich finde Linien in der Natur oder auch sonst immer sehr ansprechend, habe mich aber noch nie derartig theoretisch damit auseinandergesetzt. Deine Werke machen jedenfalls Lust auf mehr. Mir gefällt alles, am Besten die ersten 4 Bilder als auch die schwarzweißen „Puzzle“. Toll!
LikeGefällt 2 Personen
Es lohnt sich, diese Abhandlung von Kandinsky zu lesen, Almuth, es gibt sie sehr preiswert als eBook. Manche Ideen darin finde ich zwar etwas abgedreht, aber trotzdem folge ich den Gedankenspielen gern. Vor allem die Bezüge zu Klängen und Literatur öffnen neue Denkwelten. Dazu eine der ‚Kompositionen‘ Kandinskys betrachten, und der Spaß ist komplett.
Von den schwarzweißen Puzzlen habe ich zwölf oder so, sie sind so konstruiert, dass man sie in beliebiger Reihenfolge nahtlos aneinander stellen kann und sie dabei je verschiedene Schlangen bilden.
Über deinen Kommentar freue ich mich wie üblich sehr, danke sehr 🙃.
LikeGefällt 2 Personen
Ich glaube, diese Abhandlungen von ihm sind nicht so mein Ding, obwohl es sicher auch mal interessant ist, ungewohnte Pfade zu betreten. Nur dafür würde ich es mir nicht kaufen wollen. Solange genieße ich deine Ausführungen zu dem Thema 🙂
Das mit den Puzzeln hört sich gut an. Wenn die anderen Teile auch so spannend sind, hast du eine tolle Galerie zu Hause. Hängen sie bei dir?
LikeGefällt 2 Personen
Nein, zur Zeit stehen sie im Schrank. Manche Gäste dürfen damit puzzeln, wenn sie mögen. Ich finde es immer spannend, für welche Reihenfolge sie sich warum entscheiden.
LikeGefällt 2 Personen
Kann ich mir vorstellen 🙂
LikeGefällt 1 Person