„Du wirst fett, meine Liebe.“

Anne stand wie erstarrt, ihr Blick klebte an der Tür, die gerade hinter Olafs Rücken zugeknallt war. Der hämische Ton seiner Stimme hallte in ihren Ohren nach, eine Woge sich überlagernder Echos schwappte durch ihren Kopf: Fett. Meine Liebe. Fett. Meine Liebe. Wie konnte er „Meine Liebe“ sagen und dabei so lieblos klingen?

Wie in Trance tappte sie rückwärts Schritt für Schritt durch den Flur, legte gedankenverloren das angebissene Croissant auf die Ablage vor dem Spiegel, immer noch unfähig, sich von der Wohnungstür abzuwenden, bis sie gegen die Tür zum Wohnzimmer stieß. Mit einer plötzlichen Drehung floh sie dort hinein und warf
sich auf das Sofa. Ihr Körper zuckte in trockenem Schluchzen, als die Erstarrung sich zu lockern begann. Allmählich schmolz die eisige Kälte in ihr zu Tränen. Lange strömten sie in das Kissen, das Anne wie einen Retter umklammerte, bis sie sich leer und erschöpft fühlte.

Aus der Leere wuchsen Fragen und Erinnerungen, die wie von selbst in ihr erstanden. In plötzlicher Empörung setzte sie sich auf und legte den Retter entschlossen beiseite.

Wieso lag sie hier und heulte? Nicht zum ersten Mal hatte Olaf sie morgens mit einer Gemeinheit in der Wohnung, ihrer Wohnung, zurückgelassen. Jedes Mal kam er von der Arbeit, als wäre nichts gewesen. Ihre Versuche darüber zu sprechen tat er stets damit ab, er habe es nicht so gemeint, sie solle sich nicht so anstellen.

Warum war sie ihm plötzlich zu fett? Olaf hatte sie zu Beginn ihrer Liebe wegen ihrer Schlankheit verspottet und seine vorzüglichen Kochkünste genutzt das Vögelchen zu mästen, wie er zärtlich sagte. Nur zu gerne ließ sie sich von ihm verwöhnen und gab liebevoll den Spott zurück, denn er selbst war für einen Mittdreißiger ziemlich korpulent. „Für einen Mann ist das Ästhetische kein Problem.“, hatte er immer gesagt. Das hätte ihr zu Denken geben sollen.

Gedankenverloren zupfte sie Fluse um Fluse von ihrem Pullover. Nach der Größe des Wollballes zu urteilen, der in ihrem Schoß lag, musste sie damit schon eine ganze Weile beschäftigt sein. Davon wurde ihr Lieblingsstück leider auch nicht weiter, es spannte sich schon recht stramm um ihren Bauch.

Fett!    Erlebte sie von neuem das Muster, nach dem all ihre Beziehungen verlaufen waren? So sehr hatte sie sich jedes Mal an die Wünsche der Männer angepasst, und genau das kehrte sich zum Schluss gegen sie. Warum ließ sie sich immer wieder von ihnen wie ein Tanzbär am Nasenring durchs Leben führen?

Marathon mit Lars, bis sie einmal vor ihm im Ziel ankam.

Motorradfahren mit Reiner, bis er das unweiblich fand.

Sexorgien mit Ronald, bis er ihr Unmoral vorwarf.

Literatur mit Fritz, bis ihm das zu langweilig war.

Und sie blieb verlassen mit verweinten Augen hinter der neuen Lesebrille zurück; mit einem Schrank voll Reizwäsche, einer todschicken Lederkombi und aerodynamischen Sportleggings. Dazu jetzt noch mit einem Regal voller Kochbücher und einer Küche voller Gerätschaften für jeden erdenklichen Zubereitungsfall?

Plötzlich erschien ihr die Wohnung muffig und eng. Sie musste unbedingt herausfinden, was sie verkehrt machte und dieses falsche Leben beenden.

In fieberhaftem Eifer sprang sie auf und öffnete alle Fenster. Eine frische Brise zog durch die Wohnung und ihren Kopf. Klarheit, das war es, was sie endlich wollte, und ihr eigenes Leben zurückerobern.

Anne stellte sich im Schlafzimmer vor den großen Spiegel. Eine Weile stand sie reglos und betrachtete ihr Abbild. Ihre grünen Augen wirkten ein wenig kleiner als früher, eingebettet in die umgebenden Pölsterchen. Und ganz sicher hatte sie vor gar nicht so langer Zeit nur ein einziges Kinn. Aber die Figur war doch noch ganz in Ordnung. Nun ja, die Jeans saßen schon ein wenig stramm. Der Lieblingspulli überspielte das Problem gnädig.

Eins ums andere zog sie alle Kleidungsstücke aus, bis nichts mehr da war, um die Tatsache zu verbergen: Sie war tatsächlich zu dick. Freilich – was hieß das schon? Galt nicht Schlankheit als überholtes Schönheitsideal, das sogar die Modeindustrie mittlerweile für ungesund und frauenfeindlich hielt? Immer wieder tasteten ihre Blicke das Spiegelbild des Körpers ab, der sich mal zur linken, mal zu rechten Seite drehte, während sie sich bemühte, über die Schulter einen Eindruck von ihrer Rückenansicht zu erhaschen. Ihre Speckröllchen empfand sie dabei als überaus hinderlich. Der Zustand ihres Körpers ließ sich beim besten Willen nicht mit einem fehlgeleiteten Schönheitsideal entschuldigen, sie war eindeutig zu dick.

Ihr Magen knurrte und sie fröstelte. Der neue Jogginganzug hatte eine bequeme Weite, er würde sie wärmen; und eine heiße Brühe konnte nicht viele Kalorien haben.

In der Küche spielte noch das Radio mit dem Frühstückssender, ironisches Echo eines längst vergangenen Lebens, Paul Simons „Fifty ways to leave your lover“. Ihr Mund füllte sich mit dem bitteren Aroma von Enttäuschung. Sie zupfte ein Blatt Zitronenmelisse aus dem Kräutergarten auf der Fensterbank, aber gegen solchen Geschmack halfen keine Kräuter.

Wie lange hatte sie ihre alten CDs nicht mehr gehört, weil Olaf die Musik nicht mochte? Besonders verabscheute er die alten Stones-Hits. Sie suchte gleich mal die zu ihrer Stimmung passende CD heraus: Auf „12×5“ gab es „It‘s all over now“ und „Time is on my side“.

Hinter den prachtvoll bebilderten Kochbüchern lugte ein winziges, bräunliches Buch hervor. Sie zupfte vorsichtig daran und befreite es aus der großformatigen Nachbarschaft. Die Ernährungstipps aus ihrer Zeit als Marathonbraut! Sie lächelte gerührt.

Während es im Wasserkocher immer stärker rauschte, las sie in dem Büchlein. Nach einer Weile fiel ihr auf, dass das Wasser schon längst gekocht haben musste. Becher, Löffel, Instantpulver, Wasser, rühren – schlürfen: Mit einem Fluch spuckte sie die kochend heiße Suppe wieder aus. Die verbrühte Zunge hielt sie unter den Wasserhahn in den eiskalten Strahl.

Während sie wartete, dass die Brühe abkühlte, betrachtete sie nachdenklich die Küche. Was für ein Krempel überall! Es hatte mal eine Zeit gegeben, als ihre Wohnung ein luftiger und leichter Ort war. Jetzt war sie ebenso zum Platzen genudelt wie ihr Körper.

Sie nippte an der Brühe, warm und belebend durchströmte sie Energie. Was also war falsch an ihrem Leben? Ihre Figur, der Zustand der Wohnung, der Mann. Alles selbst gewählt und nicht unabänderlich. Wann hatte sie nur die Verantwortung für ihr Leben abgegeben? Sie konnte sich nicht erinnern, aber sie erinnerte sich noch, wie stark und selbstbewusst sie sich früher gefühlt hatte.

Kurz entschlossen griff sie eine Handvoll Kochbücher aus dem Regal  und legte sie vor die Wand in den Flur. Weitere folgten, bis sich dort eine beachtliche Menge stapelte. Nur die beiden Kochbücher, die ursprünglich ihr gehört hatten, blieben in der Küche zurück.

Danach kamen riesige Töpfe, eine Nudelmaschine, Fritteuse, Brotbackautomat, elektrische Gebäckpresse, gasbetriebener Flammenwerfer zum Karamellisieren von Creme Brulee. Sie bildeten eine zweite Reihe vor den Kochbüchern. Allmählich wurde es eng im Flur. In dem Gänsebräter war noch viel Platz. Mit grimmigem Lächeln schleuderte sie klirrenden Kleinkram hinein:

„Den Zestenreißer für all die bitteren kleinen Verletzungen. Die Schneckenzange für sein beklemmendes Besitzdenken. Drei Melonenbällchenausstecher in unterschiedlichen Größen für seine pedantische Rechthaberei …!“ Mit wachsendem Genuss entsorgte sie seine Heiligtümer und begleitete die rituelle Handlung mit einer Litanei der erlittenen Kränkungen.

Die Küche wirkte bereits eindeutig schlanker. Bei ihr selbst würde es nicht so schnell gehen, aber ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sie bei der Arbeit so lange ohne einen Happen zwischendurch ausgekommen war, wie seit Ewigkeiten nicht mehr.

Nicht mehr lange, und Olaf würde von der Arbeit kommen.

Sie hielt inne.

Erst jetzt kam ihr der Gedanke, was Olaf wohl zu dieser Aktion sagen würde. Ihr war, als läge das Leben mit ihm schon weit in der Vergangenheit und seine Meinung war ihr merkwürdig egal.

Sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde und dann seine Stimme:

„Liebling, ich habe uns ein Stück Kuchen mitge… oh. Hier sieht‘s ja aus, wie bei einem Umzug. “

„Stimmt.“ Lächelnd trat sie in den Flur.