
Befremdliche Verfremdung
Das Gedicht, zu dem ich hier für-und-wider-worte gebe, hat mich lange beschäftigt, es klang, als wolle es mir etwas sagen, und ich habe gesucht, was es wohl sei. Es handelt sich um Ulrike Draesners Gedicht forsythien die knallgelb noch blattlos ihr würfeln, das hier nicht nur zu lesen, sondern auch von der Dichterin gesprochen zu hören ist (die freundlicherweise der nicht nur respektvollen Auseinandersetzung mit ihrem Gedicht per Mail zugestimmt hat).
Spontan fühlte ich mich zu Trostworten bewegt:
trost für herbstliche forsythien
geschnitten schon wieder
das mädchengelb doch
vom eigenen licht trennt
das alte der schnitt
nichts kehrt zurück
nichts war je fort
dort am rand
das knallgelbe kippt
in goldenes dafür
blick aus dem herbst in
die lücken des waldes
– bald wieder blattlos –
den es immer noch
gibt
Eine Anregung der ideenreichen lyrifant und meine Lust am Spiel trieben mich dann noch dazu, mein Ringen um Verstehen in ein Palimpsest zu fassen – das kann man sich vorstellen als eine Ebene, die über den Originaltext gelegt wird, so dass einzelne Partien verändert erscheinen, die unveränderten Textstellen aber nach wie vor sichtbar bleiben und Beides Teil eines neuen Textes wird:
Erst jetzt habe ich die Ruhe gefunden, mich dir hier zuzuwenden, liebe Petra. Bei mir trubelt es zur Zeit sehr, und ich wollte dich nicht mit einer Oberflächlichkeit abspeisen.
Das Palimpsest, das durch Gerda Kazakou in den letzten Tagen in den Vordergrund gerückt wurde, hat große metaphorische Kraft, es stand in der Zeit, als ich mich mit diesem Gedicht von Ulrike Draesner auseinandersetzte, für die Auseinandersetzung mit den Prägungen der Person, mit dem Erinnern und der Frage, ob man in erinnerndem, nachholenden Streit noch Fragen klären und gerecht urteilen kann, wenn die beteiligten Personen gar nicht mehr leben. Das geht auch wohl nur über künstlerische Formen.
Und dieses nachholende Sprechen mit einem Abwesenden habe ich in Draesners Forsythiengedicht gehört.
Die Quintessenz hast du in deinem Kommentar noch einmal benannt, wir stecken permanent in unserem Lebenspalimpsest, an dem wir malen, schreiben, wieder freikratzen. Und alles ist immer da.
Ich freue mich sehr, dass du auf diesem Weg Ulrike Draesner auf lyrikline finden konntest.
🙂
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Das ist alles tief berührend das Gedicht von Ulrike Draesner, vor allem mit ihrer Stimme, und dein antwortender Beitrag. Zu schwer und zu facettenreich, um alles auf einmal zu erfassen. Spontan hängen bleiben die Worte von dir:
nichts kehrt zurück
nichts war je fort
Herzliche Grüße, Petra
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was ich hier lese, ist sehr sehr spannend für mich. Wortfetzen aus anderem Kontext setzen sich durch, bilden neue Muster, neuer persönlicher Sinn durchströmt sie, wenn dein Geist sich ihrer bemächtigt. So viele Assoziationen!
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Über das Palimpsest als Metapher für die Annäherung des Ich an das Selbst, für die lebenslange Pendelbewegung zwischen Entwicklung und Erinnerung ist in den Kommentaren auf deine Beiträge schon viel tief schürfendes gesagt worden.
Ich freue mich, Gerda, wenn dieses Beispiel etwas dazu beitragen konnte und in dir ein Echo gefunden hat.
Auseinandersetzung mit Kunst anderer Künstler hat für mich immer große Anteile an nachholender Auseinandersetzung mit (ehemaligen, aber weiter wirksamen) Autoritäten in meinem Leben.
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Eine spannende und gelungene Umsetzung!
Liebe Ostergrüße
Gabriele
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Danke sehr, liebe Gabriele, dass du von deiner knappen Zeit etwas für meine Arbeit opferst.
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Forsythia? The photo is beautiful, but I don’t remember forsythia flowers having any dark marks on them so I’m not sure what it is, but I see a word that’s simialr to our forsythia…and they’re blooming now. Happy Spring, Ule!
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Impossible to delude you: no, these are no forsythias, because they are not yet blooming here. I just needed a photo for the topic „yellow“, so I took some tulips and alstrumelias very off-focus (and there lays the key to the dark marks ).
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Yes, I get it now. 😉 And it’s been so long since I’ve been here, that surely your forsythias are in bloom? I hope so. I just translated the title – „For and Against Words“ – yes, no doubt we need them, and they can get in the way of understanding, too. I hope you are having a delightful weekend, Ule!
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There’s a double double sense in it: „for words“ in German also means „pronoun“ and“against words“ also „objections“. Its the overall heading for a series of poems, in which I deal with other poet’s work, e.g. Ingeborg Bachmann or Ulrike Draesner.
It is always a pleasure to read your remarks here, dear Lynn. Thank you so much.
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Double meanings in poetry – of course! Well, I am sorry, once again, that I don’t read German, because I think I would really like your poems. I just read about Bachmann on Wikipedia (sorry, I am another badly educated American!) and I resonated with her questions about the accountability and authority of the narrator. This was a theme that was coming up when I was in art school in the early 70’s. Also, the article about her talks about her idea that a literary work reaches forward towards a utopia, the limits of which are unknown….I like that. It’s tragic that she died relatively young. What might she have done in the next 20 years??
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We are all badly educated when it comes to compare our knowledge with everything that could be known – I don’t know whom I’m quoting, but I like the methaphor:
„The larger the island of my knowledge, the longer grows my coast of ignorance“.
I’m glad you read about Ingeborg Bachmann – she is worth every minute one spends on her.
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Das Foto ist toll und deine Trostwortvariante gefällt mir sehr gut. Wieder ein schönes Spiel von Bild und Worten!
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Vielen Dank, liebe Almuth. Lieber hätte ich ja Forsythien zum Fotografieren gehabt, aber die sind hier noch nicht so weit, dass sie ein überwiegend gelbes Bild hergeben. Und im Archiv hab ich auch noch keine.
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Der Effekt hat ja geklappt 🙂 Hauptsache Gelb!
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Ein wunderschönes Farb- und Schärfespiel ist da im Bild, kann mich gar nicht satt sehen.
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Freut mich sehr!
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