Keine Rezension,
sondern kapitelweise subjektiv die Eindrücke und Assoziationen während der Lektüre protokolliert, nicht im allwissenden Rückblick des Rezensenten, sondern das unverfälschte Abbild der wachsenden Beziehung zwischen Text und Leserin.
Peter Härtling, Schumanns Schatten, Verlag Kiepenheuer & Witsch
Ein Roman, der fesselt, obwohl die Geschichte, die er erzählt, seinem Publikum in großen Zügen bekannt ist
Kennst du das? Da ist ein Autor, von dessen Existenz du ein Leben lang weißt, dessen Kinder- und Jugendbücher du (in beruflichem Kontext) kennst, einige davon gelesen und geschätzt hast, dessen Bedeutung in der Literatur dir bewusst ist, und doch bist du – Vielleserin – im Gewimmel des Literaturangebots immer wieder an ihm vorübergegangen.
Und eines Tages siehst du ihn an, wie in diesem alten Schlager, der auch schon älter als 30 Jahre ist (“Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert“).
Ein Leseprotokoll
– der Lektüre eines sinfonischen Romans
– meiner späten Liebe zu Peter Härtling
– zu der Schumann-Hörschule, die mit Schule überhaupt gar nichts zu schaffen hat.
Das Inhaltsverzeichnis gefällt mir, es hat etwas Medienverknüpfendes – im E-Book könnten das gleich youtube-Links sein.
Kapitel 1
Spontan finde ich Klingelfeld, Schumanns Krankenpfleger in der Nervenheilanstalt in Bonn-Endenich, interessanter als Schumann selbst: ein vielseitig gebildeter junger Mann in dem Beruf, zu Schumanns Zeiten?
Erzählte Zeit ist Gegenwart, Klinikaufenthalt.
Kapitel 2 Kinderszenen
Erzählte Zeit ist Vergangenheit, Rückblick. Schön: kindliche Perspektive, ohne kindisch zu werden; Härtling ist gleichzeitig in dem Kind und bei sich; tolles Wort “Vateratem”
Kapitel 3
ab jetzt kapitelweise Zeitwechsel.
Das Wrack dem Jungen gegenübergestellt, der die Welt erobern will – krasser geht es kaum – und doch flackert noch in dem Kranken der “freie Wilde”. Klingelfeld so liebevoll.
Kapitel 4 Dichterliebe
Ich bin erleichtert, die Klinik verlassen zu können und mit dem jungen Schumann auf Reisen zu gehen. Wie Härtling den Reisenden beschreibt, höre ich Schumanns Musik: widersprüchlich, atemlos, gehetzt.
Es scheint bei allen jugendlichen Helden das gleiche zu sein, ob sie Klavier, Gitarre oder Plattenteller bedienen: es scharen sich die Groupies, während das begehrte Ziel eine unerreichbare ältere Frau anschmachtet. Müssen denn wirklich alle Jungs da durch?
Kapitel 5
Der Allwissende blickt auf die Szene …
Schon im vorigen Kapitel hat mich so ein rastloser Konzentrationsmangel ergriffen, der sich nun weiter in mir ausbreitet.
Kapitel 6 Hottentottiana
Härtling, der Seher, lässt die historischen Puppen tanzen; und wenn er selber auftritt, geht mir sein Ich zu Herzen, und ich weiß, dass er immer da ist, auch wenn er sich vergessen macht
Kapitel 7
Klingelfeld ist seltsam oszillierend, mal in sich, mal nur äußerlich. Warum stört mich das?
Kapitel 8 Gesanges Erwachen
Heidelberger Vollrausch: meine Sympathien schwinden trotz Papillons. “Er hat sich einen Plan zurechtgelegt, den wird er von nun an entschlossen verfolgen.” – ich kann’s kaum glauben.
Kapitel 9
Klingelfeld lässt so unfassbar schafsgeduldig alle Demütigungen über sich ergehen, und dann kommen ihm auch noch die Tränen über Schumanns Brief. Was für ein Mensch!
Kapitel 10 Ich hab im Traum geweinet
Die Wurzel allen Leidens gefunden in der Barmherzigkeit?
Und Heine hat ihn so gebeten, das Dichten ihm zu überlassen –
Kapitel 11
Für mich war Schumann immer ein zarter, eher schwächlicher Schöngeist, kein Hüne, der Nachtschränkchen stemmt. So gehen Illusionen dahin.
Kapitel 12 Davidsbündlertänze
Die ”hoffnungslose Sehnsucht … sich zu entgehen”, kein Wunder, wenn man verdoppelt oder gar vervielfacht unterwegs ist. Florestan, Eusebius und die vielerlei Davids gegen Goliath – Vereinsgründung. Härtlings tiefster Blick und schönster Text.
Und wir ahnten es schon: Schumann mag Wagner nicht. Aber Chopin (bzw. dessen Musik). Was für Sätze! “Ihre Kinderstimme bekommt einen scharfen Rand.”
Kapitel 13
Klingelfeld tut „nur seine Pflicht“, Tag und Nacht und Tag.
Kapitel 14 Novellette und drei Intermezzi
Echos und Splitter – zum Fürchten. Und das Kind wächst ihm entgegen, ihm über den Kopf, “im rothen Hütchen”. Zum Novemberverlöbnis. Und “Fluchten in den Konjunktiv”. Komponieren, um zu verletzen.
Kapitel 15
Terzensummen gegen die Angst, vergessen zu werden
Kapitel 16 Wie aus der Ferne
Heimlichkeiten, “recht ordentlich wilde Liebe” und Auftakt zum Eheleben mit tausend Flaschen Wein.
Kapitel 17
Schweigen. Schreien. Weinen.
Kapitel 18
Spannend wie ein Roman, dieser Roman! Härtling setzt ganz klar auf “tell”, statt auf “show, don’t tell”, dennoch sehe ich, lebe ich dieses Leben. So zeigen sich Meister.
Und als junger Vater macht Schumann keine glücklichere Figur als andere bis heute.
Kapitel 19
Erschöpfung
Kapitel 20 Fremder Mann
Bachs Fugen als Retter? Suchbewegungen aus der Depression und Weltflucht.
Oft gleitet der Text zwischen direkten Redepassagen Schumanns und den Gedanken des Erzählers Härtling fast unmerklich hinüber herüber; wie tief der Autor seiner Figur verbunden ist!
Kapitel 21
Immer tieferer Schnitt zwischen Welt und Mensch, der Mensch immer tiefer gefangen in sich.
Kapitel 22 Zum Schluss
Wären da nicht die ungeraden Endenicher Kapitel, man könnte fast an ein Happy End glauben. Doch „alles ist zu groß“, nichts hilft gegen das Höllengeräusch. Die „Gesänge der Frühe“ erklingen kurz vor Einbruch der Nacht.
Kapitel 23
Vom „Glück, Robert Schumann pflegen zu dürfen“
Das Buch lässt mich klüger zurück, nicht nur informierter über Schumann, glaube ich, und beim letzten Wort vor allem traurig; Trost gibt das gütige Lächeln des Autors auf dem Foto der verehrten Isolde Ohlbaum.
Ich werde viel von Schumanns Musik hören in der nächsten Zeit, und nie wieder auf die gleiche Weise wie bisher.
Klar, Kinderszenen oder Davidsbündlertänze kriege ich schon hin 😎; was ich spannend finde: in YouTube nach Schumann op. X zu suchen und zum jeweiligen Lebensabschnitt die Musik zu hören; es ist fast alles dort zu finden.
Gibt es eigentlich viel Musik von Schumann, die nicht in die Opus-Zählung aufgenommen worden ist?
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Liebe Ule,
Es hat etwas gedauert, meine Antwort auf dieses wunderbar kompakte und treffende Lesetagebuch. Eine tolle Idee, den Inhalt persönlich für sich (und Andere) einzufangen…
Ach, mich beschäftigt Schumanns Schicksal ja auch gerade sehr, immer entlang Peter Härtlings wunderbarem Roman, der zu Recht Biografie-Roman genannt werden darf, so nah hält sich der Autor an die historischen Fakten…Und dabei so kunstvoll, ein musikalischer Roman in Worten- mit Werkbezeichnungen und Vortragsbezeichnungen inklusive!
Ich fühle mich durch dich angestachelt, auch über dieses Buch- und Schumanns Musik und Leben- zu reflektieren…
Liebe Grüße
Monika
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Qualität geht vor Tempo, liebe Monika.
Zu dieser Reflektion brauchtest du durch mich nicht mehr angestachelt zu werden, glaube ich, die vollziehst du ohnehin. Aber es freut mich natürlich, dich darin zu bestärken.
Die musikalischen Kapitelüberschriften, wenn sie allein aus Vortragsbezeichnungen bestehen, bestimmten Musikstücken zuzuordnen, ist für mich allerdings leider hoffnungslos.
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…man kann damit wirklich sehr viel Zeit verbrauchen…Die Kapitelüberschriften zuzuordnen ist nicht so schwierig (außer „Hottentottiana“- das ist sein „Studium“- Tagebuch, aber die Satzbezeichnungen wie “ etwas hahnbüchen“ (!) schon diffiziler- da scheint Härtling sich das zu den Abschnitten jeweils Treffende willkürlich aus den Werken gepickt zu haben…
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und dein leseprotokoll ist vom feinsten!
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Ich freu mich so, dass diese Art, über Bücher zu schreiben, „funktioniert“ – denn Rezensionen nach traditionellem Muster gibt es so viele, dass man nichts mehr hinzufügen muss.
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ich werde das buch auch wieder lesen „müssen“. deine zeilen erinnern mich daran, dass beim lesen dieses buches alles rund um mich versunken ist.
sein buch, Liebste Fenchel, hat mich ganz besonders berührt.
ich denke, du wirst diese Fanny Hensel-Mendelsohn sehr schnell in dein herz schließen.
liebe grüße
gabriele
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Tut mir ja leid, dass ich dein Bücherbudget so angreife 🙄
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Klingt so, als müsste ich es lesen. Kenne nur – lang, lang ist es her – seinen „Hölderlin“ und seinen „Waiblinger“.
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Er hat auch über Fanny Mendelssohn geschrieben. Das werde ich wohl bald genießen.
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wie hochinteressant auch… ich habe seinerzeit an der uni ein seminar über komponistinnen besucht… toll war das. und meine freundin, die das seminar übrigens leitete, promovierte über fanny. 🙂
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Die Frauen in der Musik hatten (?) entschieden stärker zu kämpfen, als die Männer. In der Dichtung scheint mir das ähnlich – wenn man das Verhältnis der erfolgreichen Veröffentlichungen am 1:1-Verhältnis Männer:Frauen misst.
Meine Lektüre der nächsten Zeit wird jedenfalls etwas monoman, wenn auch sicher nicht monoton.
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wow… das klingt nach einem höchst interessanten buch. ich wusste gar nicht, dass er so etwas geschrieben hat. danke!
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Härtling hat mehrere Bücher geschrieben, die sich mit Musikern und Dichtern befassen, und ich bin sehr gespannt, sie zu lesen (nachdem mein Bücherkauf- Embargo außer Kraft ist, d.h. der Stapel ungelesener Bücher mindestens halbiert).
Seine Sprache ist so einfach, und doch farbig und anspruchsvoll – so stelle ich mir demokratische Literatur vor, die nicht nur für Eingeweihte geschrieben wird.
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Sehr gut in dieser Hinsicht hat mir auch Wolfgang Hildesheimers „Mozart“-Buch gefallen. Schon sehr spannend, diese „Crossovers“ von Musikern, Malern und Schriftstellern. Liebe Grüße!
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Toll, dieses Tagebuch. Faszinierend, wie zu den zwei Stimmen Schumann und Härtling jetzt die dritte Stimme, Rolff, hinzu kommt. Fühlt sich für mich wunderbar „rund“ an, klug ausgewählte Zitate, und die eigenen Gefühle beim Lesen nicht zu stark, nicht zu schwach im Fokus. Hat mir große Lust gemacht auf den Roman – meinen herzlichen Dank (mal wieder 🙂 )!
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Es gibt nicht viele Menschen, die mit so heftigem Zwinkern kommentieren können, wie du, lieber SimonSegur. Da sprechen wir doch mal lieber von einem Stimmchen, das vorlaut dazwischen wispert, wenn die Großen sich unterhalten.
Es freut mich jedenfalls, wenn diese Form neugierig machen kann, anstatt zu langweilen. Sie ist ja schon ein bisschen seltsam zu lesen, wenn man das Buch nicht kennt, stelle ich mir vor. Ich bin natürlich gespannt, wie du nach der Lektüre des Buches über das Leseprotokoll denkst.
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Widerspruch – wieso Stimmchen? Ich will Dich ja nicht zum Olymp von Schumann und Härtling heben, aber Deine dritte Stimme gefällt mir halt sehr, stimmig, authentisch und so liebens- wie lesenswert. Werde mir Härtlings Schumann jedenfalls bald holen, und dann hier berichten 🙂
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