Zweiter Tag des Internationalen Lyrikertreffens 2015 in Münster. Für das Publikum, oder besser die kleine Gruppe Liebhaber der Lyrik, soll es einen Vortrag geben über die Dichterin Helga M.Novak, im Wechsel mit Gesprächsschnipseln zwischen dem künstlerischen Leiter des Festivals, Hermann Wallmann – und Silke Scheuermann, dem Paradiesvogel des aktuellen Literaturbetriebs. Hier wird die Veranstaltung auf der Website des Lyrikertreffens beschrieben.

Bekannt ist mir bisher nur Silke Scheuermanns Foto im Buchumschlag der „Skizzen vom Gras“.
Den Band nehme ich seit einigen Monaten oft in die Hand, um wieder und wieder ihre Gedichte zu lesen, auch laut, um sie klingen zu lassen, und mich über ihre Schönheit zu freuen. Auch über ihr Foto, das mir eine heitere, junge Frau zeigt, die mit klarem Blick in die Vergangenheit schaut, also gegen die Leserichtung, und zugleich aufwärts, was etwas Zukünftiges andeutet; diese Person wirkt klar, strukturiert, ihrer selbst gewiss.
Die Begegnung mit ihr an diesem Nachmittag zeigt mir einen Menschen, den ich unerwartet anders empfinde: zäh und zart zugleich, ein wenig zerfahren, fern von Gewissheiten irgendwelcher Art. Und die erste rhetorische Figur, mit der der Gesprächspartner ihr „Herz und Kopf“ attestiert, zerpflückt sie mit „Kopf hab ich nicht“. Man glaubt es ihr – für diesen Moment. Sie schlingt die Beine als Girlanden umeinander, verbirgt das Gesicht oft hinter schwarzen Strähnen, sogar die schwarz umrandeten Augen scheinen ein wenig verschleiert.

Ihren Vortrag liest sie ab, (er besteht aus Teilen des Textes zu den „Liebesgedichten“ von Novak, den Silke Scheuermann als Herausgeberin verfasst hat, so kann ich alles noch mal nachlesen, wie schön), was ihr aber nicht zu gefallen scheint, denn sie unterbricht sich, will „nicht so akademisch vortragig werden“, spricht frei, liest Gedichte von Novak, entdeckt – wie überrascht – den nächsten geplanten Punkt in den Papieren „ok, Interpretation…“ Zwischendurch scheint sie vor der eigenen Mikrofonstimme zu flüchten in Gewisper mit sich selbst, Kommentare, Zweifel, spontane Einfälle.
Am Ende fühle ich mich fast erschöpft von diesem intensiven Erleben eines Menschen, mir bis dahin und auch weiterhin unbekannt, und dennoch sehr nah und lieb. Es klingt in mir nach, was sie über Helga Novak gesagt hat: „Sie litt natürlich nicht nur unter der Politik, sondern – wie jeder andere Dichter – unter sich selbst.“
Ergraute Herren nähern sich ihr in rührend scheuer Verehrung mit der Bitte um ein Autogramm, sprachlos entzückt über Silke Scheuermanns Vorschlag, auch etwas in das zu signierende Buch zu zeichnen.

Vieles von dem, was sie gestern gesagt hat, gemurmelt, sich selbst zugeflüstert, vom Publikum mehr heimlich belauscht, als ihm präsentiert, finde ich heute wieder in „Flora und Zephyr“ oder „Skizzen vom Gras“. Und beim Lesen heute erinnere ich mich, das Gelesene gestern in ihrer Aura gespürt zu haben – stachelige Zärtlichkeit, Ebbe und Flut von Hingabe und von Selbstbefreiung, das, was sie in Helga M.Novaks Art als verwandt benennt, trotz der Unterschiede, die sie bestaunt, bewundert: Wörter, die Novak schreibt, die „man in Lyrik nie verwenden würde“; „ich schreibe auch über Tiere, aber sie kommt viel näher ran.“
Und immer wieder Liebe, die einzige, destruktive, unmögliche.