Kurzgeschichte über den Beginn eines Lebens auf dem Lande
Johanna kam von weit her. Irgendetwas hatte sie geweckt. Ein Geräusch, unbekannt. Sie öffnete vorsichtig ihr linkes Auge zu einem schmalen Schlitz und schloss es erschrocken gleich wieder. Der blendende Sonnenschein wäre schon schlimm genug gewesen, aber: Sie kannte dieses Zimmer nicht! Hatte sie sich gestern Abend mal wieder von jemandem abschleppen lassen? Sie sollte sich das endlich abgewöhnen. Aber es war doch ihr eigenes Bett!
Das erneute durchdringende Klingeln der Türglocke weckte auch ihr Erinnerungsvermögen. Natürlich, der Umzug! Sie war völlig erschöpft spät nachts in ihr Bett gefallen, das mitten in dem großen Wohn-Schlafzimmer zwischen unausgepackten Kartons stand.
Ein Blick auf die alte Standuhr zeigte ihr, dass es 7 Uhr früh war, und sie rollte sich ächzend aus dem Bett. Immer noch blinzelnd griff sie vom Fußende den großgeblümten Morgenrock und zog ihn über, taumelte dabei durch den fensterlosen Flur, rempelte mit dem Schienbein gegen einen Karton, in dem es empört schepperte, und tappte um die Ecke in den geräumigen, sonnendurchfluteten Windfang zur Haustür.
Vor der gelben Rubbelglasscheibe ahnte sie eine männliche Gestalt. Sie öffnete die Tür und stand vor einem alten Mann, der sich schon halb abgewendet hatte, um nach dem nunmehr dritten Klingelversuch wieder zu gehen. Er wirkte kaum größer als sie – was schon nicht sehr viel war – und trug zum Anorak ein Jägerhütchen. Aus seinem völlig zerknitterten Gesicht lachten sie zwei verschmitzte Augen an, die er zum Schutz vor dem aufsteigenden Zigarrenrauch etwas zukniff.
„Moin! Ich wollt nur fragen, wie viele Brötkens ich für euch mitbringen soll.“
„Äh, guten Morgen, äh, wie viele …?“
„Ja, ich bring immer für alle hier oben die Brötkens mit.“
„Ach so. Sie sind ein Nachbar?“ Dass man ihr so schnell auf die Pelle rücken würde, hatte sie nun doch nicht erwartet. – und auch noch zu nachtschlafender Zeit.
„Nee, nich direkt. Wir wohnen da hinten …“, dabei wies er mit dem qualmenden Stumpen zwischen den Fingern auf den kleinen Bauernhof hinter der Wiese voller blühendem Löwenzahn, „… und wenn ich doch sowieso zum Bäcker geh …“
„Das ist ja nett, Herr …?“
„Oldenkott. Sach einfach Opa, das tun alle hier. Ich hab zehn Kinder und dreißig Enkel, der einunddreißigste ist unterwegs. Da bin ich bald der Opa vom ganzen Dorf.“
„Aha. Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Maisenbruch ist mein Name. Johanna Maisenbruch.“
„Guter Name. Die Heilige Johanna Franziska hat ihren Feiertag am 21.August. Wie viele Brötkens soll ich denn nun mitbringen?“
Allmählich begann der Alte ihr Spaß zu machen.
„Zwei, bitte, wenn Sie so nett sein wollen.“
„Geht klar. Und…“ Er zögerte einen Moment und schaute ihr dann treuherzig in die Augen, „das gibt nich vielleicht `n Snäpsken auf den Weg?“
Was meinte er?
„Ein … oh, ja. Meinen Sie wirklich, so früh am Morgen ist das bekömmlich?“
„Hat mir bis heut nich geschadet – ich werd achtzig diesen Herbst.“
Ein schlagendes Argument. Sie musste lachen und fühlte sich plötzlich ganz und gar nicht mehr gestört.
„Wenn Sie meinen – warten Sie mal. Hier in der Kiste müsste der Armagnac stecken.“ Sie öffnete den Deckel, raschelte zwischen dem zur Polsterung zerknüllten Papier und hob nach kurzem Suchen eine Flasche hoch.
„Die Schwenker stecken leider noch in irgendeinem Karton. Ich hol Ihnen eben ein Wasserglas.“
„Das macht nichts“, hörte sie seine helle, etwas krächzige Stimme auf dem Weg in die Küche.
Als sie ihm das Glas reichte, flog ein verdrießlicher Schatten über sein Gesicht.
„Och, `n Braunen … an sich ist mir `n Klaren lieber. Aber egal“, sogleich strahlte er wieder fröhlich, „Hauptsache, dat dreht inne Rübe.“ In einem Zug kippte er das Getränk, wischte mit dem Handrücken über den Mund, und mit den Worten „Nu muss ich aber weiter“ reichte er ihr das Glas zurück. Grüßend lüpfte er seinen Hut und tänzelte mit einem kleinen Ausfallschritt in einer kühnen Kurve durch das Gartentor, dass der Gamsbart munter wippte. Johanna schaute ihm nach, wie er sich zum Dorf hinwendete. Als er sich nach wenigen Schritten wieder nach rechts zum Gartentor des nächsten Hauses drehte, lächelte sie über diesen liebenswerten Kauz. Was für ein netter Auftakt für ihr Landleben.
Sie schloss die Tür hinter sich und ließ den Blick durch ihr neues Haus schweifen. Da wartete reichlich Arbeit, genug für die nächsten Tage und Wochen. So früh hatte sie zwar nicht aufstehen wollen, aber nun war sie wach, zog sich an und bereitete ihr erstes Frühstück in Schürkenbeck vor, das unerwartet üppig ausfallen würde.
Als das Haus nach Kaffee duftete und sie im sonnigen Wohnzimmer einen Umzugskarton in einen Frühstückstisch verwandelt hatte, warf sie einen Blick auf die Straße, aber von diesem Herrn Oldenkott war noch nichts zu sehen. Ein paar hundert Meter mit drei oder vier Lieferadressen für Brötkens waren es wohl bis zum Bäcker im Dorfkern, und mit knapp achtzig war man nicht mehr so schnell auf den Beinen.
Außerdem hatte sie sich vom Landleben doch eine Entschleunigung ihres Alltags erhofft – da war sie schon. Sie zog die Zeitungen von gestern und vorgestern aus dem Karton mit der Aufschrift „Das Allerletzte“ und vertiefte sich in die leicht angestaubten Neuigkeiten.
Es war fast eine Stunde vergangen, als sie auf der Straße einen zittrigen Tenor „Im Frühtau zu Berge“ singen hörte. ,Opa’ kam gleichzeitig mit ihr an der Haustür an, lächelte ihr mit leicht glasigem Blick entgegen und reichte ihr mit einer galanten Verbeugung eine Brötchentüte. Zwei weitere trug er noch in einem Netz. Das Angebot, zu bezahlen, lehnte er mit dem Hinweis ab, er komme später noch mal rum zum Kassieren, aber wenn er noch ein Snäpsken haben könne, für den Heimweg …
Am frühen Nachmittag hatte sie schon einen beachtlichen Berg zusammengefalteter Umzugskartons im Flur aufgestapelt. Die Schränke im Schlaf- und Wohnzimmer füllten sich und man musste nicht mehr so sehr aufpassen, um unfallfrei durch die Wohnung zu kommen. Sogar eine halbe Flasche Grappa hatte sie noch in einer Kiste entdeckt, so dass sie morgen früh einen ‚Klaren für den Weg’ anbieten konnte.
Gerade hatte sie die Flasche und dazugehörige Gläser auf der alten Anrichte im dunklen Flur aufgebaut, da unterbrach die Türglocke die geschäftige Stille im Haus.
‚Opa’ kam kassieren, eine leichte Schnapsfahne wehte munter vor ihm her, und er kam nicht allein:
„Gun Tach! Ich hab ja gesagt, ich komm noch mal wieder zum Kassieren. Nu hab ich zu Hause so viel erzählt von der propren Neuen im Doktorhaus, da wollte meine Frau doch gleich mal mit zum Kennenlernen.“
‚Opas’ Frau sah nicht so aus, als ob sie auch gerne ‚Oma’ genannt würde. Sie stand sehr würdevoll in grauem Hut, Mantel und etwas schief gelaufenen Gesundheitsschuhen vor ihr und ergriff höflich lächelnd die ausgestreckte Hand.
„Herzlich willkommen in Schürkenbeck“, sprach Frau Oldenkott feierlich in angestrengtem Hochdeutsch, wohl gewandter im sonst üblichen Platt.
„Kommen Sie doch herein, bitte.“
„Nee, nee, wir wollen nicht weiter stören. Wir kennen das von unseren Enkelkindern, was das für `n Tohuwabohu ist, so `n Umzug. Komm, Opa.“ Sie drehte sich um.
„Moment! Sie bekommen doch noch das Brötchengeld. Außerdem habe ich endlich auch eine Flasche Klaren für Sie gefunden, Herr Oldenkott. Nehmen Sie doch ein Gläschen.“
‚Opa’ hob abwehrend die Hand und warf gleichzeitig einen erschrockenen Blick auf seine Frau, die abrupt stehen geblieben war und sich nun langsam wieder umdrehte. Johanna betrachtete mit schlechtem Gewissen die beiden; da hatte sie ja was Schönes angerichtet!
Mit triumphierendem Lächeln sah die alte Dame ihren Mann an: „Aha! Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst nicht …“ Der Schrecken war aus ‚Opas’ Gesicht so schnell verschwunden, wie er darin erschienen war. Mit ungerührter Duldermiene und halb geschlossenen Augen ließ er die Strafpredigt auf sich niederprasseln, die in ihrem Verlauf allmählich ins Plattdeutsche überging. Als sie endlich versiegt war, schien er zu erwachen, zwinkerte Johanna zu, schritt kerzengerade an seiner Frau vorbei zur Gartenpforte und sagte mit einer wegwerfenden Handbewegung:
„Schriews op, dann lern ick `t utwennich.“
Nun hab ich’s bis hierher geschafft. Denn nur über den Reader kann ich dir hier auch ein Like setzen. Und ich mag diese humorvolle, atmosphärische Geschichte auch wieder sehr. Ob du wohl Ähnliches erlebt hast? Gibt es das noch auf dem Lande? Jedenfalls finde ich einige originelle Ideen darin!
Soeben erst habe ich auch erst deine Antwort nach der 3.Geschichte entdeckt.
Ich bin dann mal weg dorthin. Herzlich, Petra
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Diese Geschichte ist nicht komplett fiktiv, der „Opa“ hatte ein reales Pendant, das ich literarisch aufpoliert habe.
Eigentlich ist sie ein Kapitel aus einem unvollendeten Romanprojekt, das wohl auch unvollendet bleiben wird. Mein „literarisches Lebenswerk“ besteht aus Unvollendetem – Schubert hat nur eine U. geschafft …👀
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