Xena trat durch das Tor der Kasbah hinaus und erstarrte. Über der Piste hinter den Arganbäumen senkte sich eine rötliche Staubwolke, in der ihr Reisebus nach Marrakesch verschwunden war. Im Bus hing ihre Jacke mit dem Handy. Die Sonne stand tief, bald würde es stockdunkel und eiskalt werden.
Das Tor hinter ihr knarrte, der Hüter der Berberburg schloss es zur Nacht.
„Halt!“ Sie hechtete zurück. Gerade noch rechtzeitig. Rumpelnd sperrte das Tor sie ein.
Der Greis lächelte ihr zahnlos zu. Mit spinnendünnen Fingern bedeutete er ihr, ihm zu folgen.
„Kann ich von hier telefonieren?“ Er nickte freundlich und schritt vor ihr her. Gott sei Dank, er verstand Französisch! Sie folgte ihm und hatte bald die Orientierung verloren. Die engen Gassen zwischen den Mauern aus Holzgeflecht und Lehm hatten bei der Besichtigung im Tageslicht warm und schützend
gewirkt, jetzt waren sie düster und bedrohlich. Xena ärgerte sich über diese selbst verschuldete Notlage.
„Verdammte Scheiße!“
Der Alte drehte sich um und nickte dasselbe heitere Lächeln. Er stieß eine Holztür auf und winkte sie weiter. Sie prallte gegen eine Wand aus Düsternis.
Wie Krallen legten sich die Finger des Mannes fest um ihren Unterarm und zogen sie hinein. Es roch muffig, ihre Schritte knirschten dumpf. Ein Lufthauch strich um ihren Nacken und ließ sie erschauern. Die Finger zogen sie vorwärts.
Ein Stück voraus schimmerte Licht. Auf einem bunten Teppich saß eine Frau und brühte Tee über einer Gasflamme. Sie lächelte ebenso liebenswürdig wie der Berber. Xena folgte der einladenden Geste sich zu setzen. Auch der Mann hockte sich nieder und sprach ein paar Worte, die nicht arabisch klangen. Er betrachtete abwechselnd die Teezeremonie und Xena. Seine Augen blitzten unerwartet hellblau, sie wanderten wohlgefällig ihre nackten Arme hinauf und unternahmen verstohlene Abstecher zu ihren Brüsten. Unbehaglich verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper.
„Wo kann ich bitte telefonieren?“
Wieder nickte der Mann und grinste.
Verstand er sie wirklich? Sie erinnerte sich an die Vorträge der Fremdenführer. Berber hatten einst ihre Kultur geschützt, indem sie sich arabischen Einflüssen einschließlich der beiden Landessprachen verweigerten. Heute zogen die Jüngeren aus den Wohnburgen fort in die Städte. Zurück blieben die Alten und träumten von früher.
Ausschließlich der Vergangenheit schien dieser Alte aber nicht hingegeben zu sein. Er war aufgestanden und umkreiste sie, tastete sie von allen Seiten mit den Augen ab. Die faltigen Lippen zogen sich saugend zusammen und entließen dabei Schnalzer und Schmatzer. Die Frau bot Xena dampfenden Pfefferminztee an, den sie gerne annahm. Ihr schauderte inzwischen nicht nur wegen des Alten, sondern auch weil durch die Schießscharten, die den Raum belüfteten, ein kalter Wind pfiff.
„Sagen Sie, verstehen Sie mich überhaupt?“ Wieder dieses Lächeln und Nicken, das sie allmählich wütend machte.
„Verdammt noch mal, jetzt hören Sie auf zu nicken und geben mir ein Telefon!“ Der Mann setzte sich neben sie. Er roch streng, wie die Ziegenböcke ihrer Großmutter damals in Chucena.
Die Frau stand auf und entzündete eine Öllampe, bevor sie den Gasbrenner ausmachte.
Panik stieg in Xena auf. Gab es überhaupt Strom hier? Wie sollte sie ohne Telefon ein Lebenszeichen aussenden?
Die Frau nahm sie bei der Hand und zog sie in eine eisige Nebenkammer. An der Wand war ein Lager aus Tierfellen und groben Wolldecken aufgeschichtet, der Ziegengeruch raubte ihr den Atem. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein Blechtopf mit Deckel, auch wie bei Oma damals.
Plötzlich stand sie im Dunkeln, die Frau hatte samt Öllampe den Raum verlassen. Xena ergab sich in ihr Schicksal und legte sich zwischen die Felle. Sie zitterte, ihr Körper verkrampfte sich vor Kälte und Furcht.
Ein leises Rascheln ließ ihren Atem stocken, das Herz pochte plötzlich im Hals, als wolle es hinaus. Was war das? Katzen? Ratten?
Das Geräusch näherte sich, die Felldecken ihres Lagers bewegten sich. Sie hörte Atmen. Lag starr vor Schreck. Jemand kroch zu ihr in das Lager.
Eine Stimme sprach in sanftem Singsang, wie ein Schlaflied oder Nachtgebet. Mütterlich. Durch ein Ziegenfell schamhaft getrennt, kuschelte sich der Körper der Alten an sie. Menschenwärme und Tiergeruch durchdrangen Xena tröstlich, die Starre zerfloss, das Zittern verebbte. Zu erschöpft sich länger zu wehren, ließ sie sich fallen und schlief ein.