In schwierigen Zeiten kann es helfen, sich auf das Einfache zu besinnen. Die Einfachheit kann sich dabei zwar als trügerisch erweisen, dennoch kann sie als Ausgangspunkt zu einer strukturierten Entwicklung helfen.

Der Punkt beispielsweise.

Geometrisch ein Ding ohne Ausdehnung und Begrenzung, also nicht materiell, ist er in darstellender Kunst – so definiert – nicht zu verwirklichen.

Der Punkt ist die innerlich knappste Form

Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche: Analyse der malerischen Elemente. Zitate nach Positionen des kindle e-books. Hier Pos.240

Aus Kandinskys Überlegungen ergibt sich der Punkt im Zentrum eines Quadrats als Urbild aller malerischen Gestaltung.

Verändert man Position, Form oder Größe des Punktes oder das Format der Grundfläche, hat das unmittelbare Auswirkung auf die Spannung (bei Kandinsky auch den Klang) der Komposition und ist bereits Ausdruck einer künstlerischen Entscheidung. Bald folgt die Frage

reicht ein Punkt für ein Werk aus

Pos. 297

Kandinsky verneint, dass jede zufällige Darstellung eines Punktes oder die Zusammenstellung einiger Formen automatisch zum Werk werde. Vielmehr habe die Künstlerin absichtsvoll nach einer „organisierten Summe“ notwendiger Spannung zu streben, um ein Werk zu schaffen (nach Pos.257). Hier geht er (wie so oft) über einen reinen Materialismus hinaus.

Der Punkt ist für Kandinsky nicht zwingend ein rundes Gebilde, er kann sternförmig, dreieckig oder sonstwie geformt sein, verändert damit aber seine Spannung. Allen gemeinsam ist die geringe Ausdehnung.

Kaum beginne ich mich zu fragen, wie groß denn wohl ein Punkt werden darf, bevor er zur Kreisfläche wird, formuliert schon Kandinsky dieses Problem

wo wäre dann die Grenze zwischen Punkt und Fläche? Hier sind zwei Bedingungen zu berücksichtigen: das Verhältnis des Punktes zur Grundfläche in bezug auf die Größe und das Größenverhältnis zu den übrigen Formen auf dieser Fläche. Was noch immer als Punkt auf der sonst leeren Grundfläche gelten kann, das muß als Fläche bezeichnet werden, wenn z. B. eine sehr dünne Linie auf die Grundfläche hinzukommt

Pos.200

So einfach wie in der Mathematik geht das in der Kunst leider nicht: Die Antworten fallen hier relativ aus. Die Entscheidung über Punkt oder Fläche hängt zum Beispiel vom Verhältnis der Punktgröße zu seiner Bildebene, aber auch zu weiteren Elementen in seiner Ebene ab:

Wenn wir die Abstraktion verlassen, hängt die Einordnung als Punkt oder Kreis von unserem Wissen über die reale Größe eines abgebildeten punktförmigen Gegenstandes ab. Ein paar Beispiele folgen.

Punkte spielen auch in anderen Kunstformen oft die Rolle höchster, auch zeitlicher Knappheit.

  • Punktklänge in der Musik haben auf Grund akustischer Bedimgungen keinen scharf umrissenen Rand (sie klingen nach).
  • Punkte in der Literatur unterbrechen Sätze oder Gedanken, sorgen für einen Moment der Stille.
  • Der Tanz setzt Punkte durch plötzlich erstarrte Bewegung. Mir fällt auch der Spitzenschuh ein, der Punkte zu setzen auffordert. Oder sie erscheinen in der choreografischen Schrift wie zum Beispiele bei Gret Palucca, siehe hier.

Auch in der Fotografie sind punktförmige Elemente verbreitet, oft von gestalterischer Wichtigkeit. Natürlich handelt es sich immer um Kreisflächen, und ich frage mich, in wie weit die Strukturiertheit einer Fläche ihre Wahrnehmung als Punkt oder Kreisfläche beeinflusst, oder auch die Struktur der umgebenden Bildfläche, die Art und Fülle weiterer Bildreize.